Kontext und Entstehung
Der Qānūn fī ṭ-ṭibb (lat. Canon medicinae) des Ibn Sina (lat. Avicenna; kurz vor 980–1037) bündelt die antik‑arabische Gelehrtenmedizin in einem geschlossen gedachten Lehrsystem. Verfasst wurde das Werk zu Beginn des 11. Jahrhunderts in arabischer Sprache. Für die mittelalterliche Heilkunde Europas wurde es – nach seiner Latinisierung – zu einem der prägendsten Grundtexte.
Aufbau in fünf Büchern
Der Canon gliedert sich in fünf Bücher: (I) Allgemeine Prinzipien (Theorie, Definitionen, Physiologie/Pathologie, Diagnostik, Diätetik), (II) einfachen Heilmittel (Simplicia), (III) Erkrankungen der einzelnen Organe (Kopf‑zu‑Fuß‑Ordnung), (IV) nicht organbezogene Krankheiten (Fieber, Gifte, Verletzungen u. a.), (V) Zusammensetzungen (Composita, Formular/Aqrabadhin).
Lateinische Übersetzung und Rezeption
Um 1170 wurde der Canon in Toledo durch Gerhard von Cremona und sein Umfeld ins Lateinische übertragen. Im 13. Jahrhundert avancierte er zum Kerntext des medizinischen Unterrichts an europäischen Universitäten – eine Stellung, die er bis in das 16. Jahrhundert behauptete. Handschriftliche Verbreitung und frühe Drucke mit Glossen und Kommentaren sicherten seine Präsenz in Lehre und Praxis.
Materia medica (Buch II)
Zu Beginn des zweiten Buches erläutert Ibn Sina Systematik und Wirkungsqualitäten der Heilmittel. Das Buch II beschreibt die Einzeldrogen in 758 Kapiteln (unterschiedliche Länge) und gliedert sie einheitlich mit Stichworten. Zahlreiche Bezeichnungen – besonders für Pflanzen, Harze und tierische Produkte – blieben in den lateinischen Fassungen arabisch, noch in Drucken des 16. Jahrhunderts. Das erschwerte die Rezeption; Humanisten und Ärzte wie Leonhart Fuchs (1501–1566) und Otto Brunfels (1488–1534) beklagten wiederholt, man habe Avicenna nicht wirklich verstanden.
Wirkung und Einordnung
Der Canon verband antike Autoritäten (v. a. Galen; für Buch II maßgeblich Dioskurides) mit arabischen Weiterentwicklungen zu einem didaktisch klaren Ordnungsrahmen: Theorie, Diätetik, Arzneimittellehre und Therapie wurden aufeinander bezogen. In der klösterlichen und universitären Praxis des Hoch‑ und Spätmittelalters lieferte er Begriffe, Kategorien und Rezepturwissen, die noch die Frühe Neuzeit prägten.
Kernpunkte
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Canon medicinae (arab. Qānūn fī ṭ‑ṭibb), Anfang 11. Jh.; Autor Ibn Sina; lat. Avicenna
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Fünf Bücher: I Theorie; II Simplicia; III Organleiden; IV Allgemeines (z. B. Fieber/Gifte); V Composita (Aqrabadhin)
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Latinisierung: Toledo um 1170 (Gerhard von Cremona)
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Universitäten: Kerntext vom 13. bis ins 16. Jahrhundert
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Buch II: 758 Kapitel; einheitliche Gliederung; zahlreiche arabische Drogenbezeichnungen
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Humanistische Kritik: Fuchs, Brunfels (Verständnis/Terminologie)