Mit der Äbtissin vom Rupertsberg, Hildegard von Bingen (1098 - 1179), kommt die literarische Produktion der Klostermedizin zu einem gewissen Abschluss. Zwar gibt es weiterhin medizinische Werke, die von Nonnen oder Mönchen geschrieben werden, aber sie setzen sich nun mit der akademischen Medizin auseinander. Dies ist durch die ab dem 12. Jahrhundert zunehmende Konkurrenz seitens einer sich entwickelnden laikalen Ärzteschaft bedingt, die ihren Ursprung in der medizinischen Hochschule von Salerno hat.


Erste Spuren der Wirkung von Salerno finden sich bei Hildegard von Bingen. Die beiden natur- und heilkundlichen Bücher, die ihr heute, freilich nicht vollkommen zweifelsfrei zugeschrieben werden, sind heute als ‚Physica’ (Drucktitel 1533) sowie ‚Causae et Curae’ (nach der Handschrift Kopenhagen) bekannt. Im Verzeichnis ihrer Werke, das kurz nach ihrem Tod für den geplanten Kanonisationsprozess erstellt wurde, ist noch von je einem Buch über einfache und zusammengesetzte Arzneimittel die Rede. Inhaltliche und stilistische Eigenheiten lassen außerdem darauf schließen, dass die Schriften tatsächlich auf die Äbtissin zurückgehen. In ‚Physica’ werden die Heilmittel in neun Büchern behandelt: zuerst werden die Kräuter dargestellt, 230 an der Zahl, dann folgt eine Elementenlehre, der sich ein Buch mit 63 Kapiteln über die Heilkräfte der Bäume anschließt. Den Edelsteinen ist das vierte Buch gewidmet, Buch fünf handelt von den Fischen, Buch sechs von den Vögeln, Buch sieben von den „Vierbeinern" und Buch acht von den kriechenden Tieren (´de reptilibus`), das neunte Buch von den Metallen. Besonders wichtig sind die beiden Bücher über die Pflanzen, denn hier wird manche Art erstmalig als Arzneipflanze genannt, z. B. Calendula officinalis.

Hildegard schließt sich teilweise der Viersäftelehre an, wie sie über Salerno verbreitet wurde. Sie nennt die Primärqualitäten bei fast jeder Pflanze, aber nicht in der sonst üblichen Weise: oft heißt es, eine Pflanze sei mehr warm als kalt (oder umgekehrt), und bei den Säften geht es ihr anscheinend vor allem um das Phlegma; dies wird in ‚Causae et Curae’ deutlich. Dieses Werk ist in vielerlei Hinsicht äußerst interessant. Es behandelt nicht die zusammengesetzten Arzneimittel (Composita), wie hin und wieder zu lesen ist, vielmehr ist von konkreten Heilmitteln selten die Rede. Es geht um die Konstitutionen des Menschen, aufgeteilt nach Mann und Frau, um physiologische Vorgänge, wie etwa die Verdauung oder die Menstruation, und um die Entstehung von Krankheiten. Dabei wird eine eigenständige Interpretation der medizinischen Theorie unter Einbeziehung der Sexualität geboten, wie sie für das gesamte Mittelalter völlig einmalig ist. Für mehrere Aspekte finden sich in ihrer Schrift ‚Über die göttlichen Werke’ (‚Liber divinorum operum’) wichtige Ergänzungen.